Von Brillen und Bestätigungsfehlern
Eine Klientin erzählte gestern in einer Einzelsitzung von dem unschönen und angespannten Verhältnis mit einer Kollegin. Sie fühle sich von ihr immer häufiger respektlos und von oben herab behandelt und „vorgeführt“. Das würde die Zusammenarbeit sehr erschweren und die Freude an der Arbeit insgesamt spürbar schmälern.
Nun hatte ich mich gerade in den letzten Tagen noch einmal mit dem Thema „Überzeugungen und Glaubensätze“ beschäftigt und wie diese unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit prägen. Sprichwörtlich ist ja die „rosarote Brille“ der Verliebten, die uns Fehler und Schwächen bei der oder dem Angebeteten schlicht nicht sehen lassen. Aber auch in anderen Zusammenhängen tragen wir alle immer wieder solche Brillen, die unseren Blick auf andere Menschen und auf das, was uns und um uns herum geschieht, beeinflussen. Diese Brillen wirken wie Filter, die uns bestimmte Dinge besonders deutlich sehen lassen, anderes dafür aber aussparen.
Wenn ich als Potsdamerin z.B. aus irgendeinem Grund davon überzeugt und also mit der „Brille“ unterwegs bin, dass alle Berliner Autofahrer einen rücksichtslosen und aggressiven Fahrstil haben, werde ich v.a. die Begebenheiten registrieren, in denen mir wieder mal einer mit einem B im Kennzeichen die Vorfahrt nimmt oder auf der Autobahn drängelt. Den freundlichen Autofahrer, der in einer Straße im Prenzlauer Berg seinen Wagen extra einen halben Meter weiter vor fährt, damit ich mit meinem noch in die Parklücke dahinter passe, werde ich womöglich gar nicht bemerken.
Die Erscheinungsformen dieser „Brillen“ sind vielfältig: Überzeugungen, Glaubenssätze, Denkmuster, Vorurteile. Ihnen allen gemein ist, dass sie eine bestimmte Erwartungshaltung in uns erzeugen, der wir uns selten bewusst sind, und noch seltener sind wir bereit, sie infrage zu stellen. Vielmehr führen automatisch und unbewusst ablaufende kognitive Prozesse dazu, dass wir nur solche Informationen sammeln, die zu unserer Erwartungshaltung passen, andere hingegen blocken wir ab. Dafür gibt es einen ganz einfachen Grund, nämlich unser Bestreben, unseren Denkaufwand möglichst gering zu halten. Nur das wahrzunehmen, was wir erwarten, spart schlichtweg Energie. Wir müssen uns dann nicht mit Dingen auseinandersetzen, die unserem Denken zuwiderlaufen. Eine solche Auseinandersetzung bedeutet nämlich Arbeit, um die wir uns gerne drücken. Außerdem verunsichert es uns, wenn unsere Überzeugungen erschüttert oder hinterfragt werden. Diesen als unangenehm empfundenen Gefühlszustand der kognitiven Dissonanz versuchen wir ebenfalls zu vermeiden.
Die Folge einer solchen den eigenen Überzeugungen und daraus resultierenden Erwartungen angepassten Wahrnehmung der Wirlichkeit sind dann allerdings oft Betriebsblindheit und sogenannte „Bestätigungsfehler“. Bezogen auf meine Klientin könnte das heißen:
Wenn sie – aufgrund einer bestimmten Erfahrung oder warum auch immer – der festen Meinung ist, ihre Kollegin würde es darauf anlegen, sie vorzuführen und / oder vor der gemeinsamen geleiteten Ausbildungsgruppe bloßzustellen, wird sie immer wieder eine Gelegenheit finden, in der sie sich in dieser Meinung bestätigt fühlt. Auch wenn es vielleicht gar nicht so ist oder auch, wenn die Kollegin ihr Verhalten inzwischen vielleicht geändert hat, wird sie das nicht sehen können.
Was kann nun Supervision in einem solchen Fall leisten?
- Als erstes und einfachstes einmal darüber informieren bzw. immer wieder bewusst machen und daran erinnern, dass jeder von uns mit solchen Brillen auf der Nase durch die Welt läuft und was die Folgen davon sind.
- Weiterhin kann ich dem Klienten / der Klientin vorschlagen, einen Brillentausch vorzunehmen – wir haben nämlich theoretisch immer die Möglichkeit, die eine Brille gegen eine andern auszuwechseln. Ich verabredete also mit meiner Klientin, die nächsten 2 Wochen den Kontakt mit der Kollegin einmal ganz gezielt durch die Brille „Wo begegnet sie mir mit Wertschätzung?“ zu betrachten und Beispiele dafür zu sammeln.
- Außerdem bereiteten wir ein Gespräch vor, in der meine Klientin ihrer Kollegin ihre Wünsche mit Blick auf eine respektvolle, wertschätzenden und und gleichberechtigte Zusammenarbeit mitteilen will – denn darum ging es ihr im Interesse der gemeinsamen Sache in erster Linie.
Sicher gibt es auch noch ganz andere Möglichkeiten und Wege, einen solchen Fall zu bearbeiten und ein Bewusstsein für das Thema zu schaffen – z.B. mit der folgenden Geschichte.
Der Axtdieb
Ein Mann fand eines Tages seine Axt nicht mehr. Er suchte und suchte, aber sie war verschwunden.
Der Mann wurde ärgerlich und verdächtigte den Sohn seines Nachbarn, die Axt genommen zu haben.
An diesem Tag beobachtete er den Sohn seines Nachbarn ganz genau.
Und tatsächlich: Der Gang des Jungen war der Gang eines Axtdiebes. Die Worte, die er sprach, waren die Worte eines Axtdiebes. Sein ganzes Wesen und sein Verhalten waren die eines Axtdiebes.
Am Abend fand der Mann die Axt durch Zufall hinter einem großen Korb in seinem eigenen Schuppen.
Als er am nächsten Morgen den Sohn seines Nachbarn erneut betrachtete, fand er weder in dessen Gang, noch in seinen Worten oder in seinem Verhalten irgendetwas von einem Axtdieb.
(Walter, Rudolf [Hg.]: Gelassenwerden, Herder, 1995)
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