Was Kamele mit Supervision zu tun haben
Das 18. Kamel
Ein Mullah ritt auf seinem Kamel nach Medina. Unterwegs sah er eine Herde von Kamelen. Daneben standen drei junge Männer, die offenbar sehr traurig waren. „Was ist euch geschehen, Freunde?“ fragte er und der Älteste antortete: „Unser Vater ist gestorben.“ „Allah möge ihn segnen, das tut mir leid für euch. Aber er hat euch doch sicherlich etwas hinterlassen?“ „Ja“, antwortete der junge Mann, „diese siebzehn Kamele. Das ist alles, was er hatte.“ „Dann seid doch fröhlich! Was bedrückt euch denn noch?“ „Es ist nämlich so“, fuhr der älteste Bruder fort, „sein letzter Wille war, dass ich die Hälfte seines Besitzes bekomme, mein jüngerer Bruder ein Drittel und der jüngste ein Neuntel. Wir haben schon alles versucht, um die Kamele aufzuteilen, aber es geht einfach nicht.“ „Nun, dann nehmt für einen Augenblick mein Kamel, und lasst uns sehen, was passiert.“Von den achtzehn Kamelen bekam jetzt der älteste Bruder die Hälfte, also neun Kamele; neun blieben übrig. Der mittlere Bruder bekam ein Drittel der achtzehn Kamele, also sechs; jetzt waren noch drei übrig. Und weil der jüngste Bruder ein Neuntel der Kamele bekommen sollte, also zwei, blieb ein Kamel übrig. Es war das Kamel des Mullahs. Er stieg wieder auf und ritt weiter und winkte den glücklichen Brüdern zum Abschied lachend zu.
(Quelle: Segal, Lynn: Das 18. Kamel oder die Welt als Erfindung. Piper, München 1988)
Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich war zunächst etwas ratlos, als mir diese Geschichte kürzlich in die Hände fiel. Ihr „tieferer Sinn“ schien sich mir nicht wirklich zu erschließen, auch wenn ich sie inhaltlich durchaus zu verstehen meinte. Erst durch den Hinweis, dass wohl schon Paul Watzlawick diese Geschichte immer wieder erzählte um zu verdeutlichen, was in einer Therapie passiert, kam mir der Gedanke, dass sich vielleicht wirklich kaum besser beschreiben lässt, wie Beratung, Therapie und eben auch auch Supervision funktionieren: In einer verzwickten, scheinbar ausweglosen Situation gibt jemand von außen einen Impuls, bringt damit etwas in Bewegung und ermöglicht so den Beteiligten, schließlich selbst eine Lösung für ihr Problem zu finden. Genialer Weise brauche ich als Supervisorin dafür nicht mal wirklich ein 18. Kamel, sondern nur die Idee davon. Denn natürlich hätte der weise Mullah auch zu den 3 Brüdern sagen bzw. (klassisch systemisch-hypothetisch) fragen können: „Mal angenommen, ich würde Euch mein Kamel schenken – würde Euch das weiterhelfen?“ Auch dann wären die Brüder mit großer Wahrscheinlichkeit zu der gleichen Lösung gekommen. Oder etwas ausführlicher formuliert:
- Als Supervisorin komme ich von außen, aber ich lasse mich ganz auf die Geschichte und die aktuelle Situation und Fragestellung meiner KlientInnen ein.
- Ich überlege zusammen mit den KlientInnen, was in dieser Situation hilfreich sein könnte, mache ein entsprechendes Angebot, aber die KlientInnen entscheiden selbst, ob sie dieses annehmen.
- Durch meine Anregung verändert sich die (gedankliche) Wirklichkeit meiner KlientInnen und sie sind dadurch in der Lage, (Aus-)wege aus ihrer Situation zu sehen, die sie vorher nicht sehen konnten.
- Am Ende einer solchen gelungenen Sitzung habe ich nicht weniger als vorher und kann mit einem zufriedenen Lächeln weiterziehen. Meine KlientInnen sind glücklich, eine gute Lösung für alle Beteiligten gefunden zu haben, und mit der Zeit kommen sie vielleicht sogar immer öfter ohne „Mullah“ auf die Idee, was ihr „18. Kamel“ sein könnte.
Schlussbemerkung:
Mein Mann – Maschinenbau-Ingenieur und passionierter Alles-Infragesteller – wies mich darauf hin, dass rein mathematisch betrachtet die Geschichte nicht ganz korrekt sei, da durch die Anteile 1/2 , 1/3 und 1/9 nur 17/18 des Erbes aufgeteilt würden. Aber dank Manfred Börgens fanden wir auch für dieses Problem eine Lösung.
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