Schwäche oder Stärke?

Neulich hab ich mich über mich selbst geärgert. Ich war eifersüchtig – ein Gefühl, von dem ich gemeint hatte, es schon längst aus meinem Emotionshaushalt verbannt zu haben. Aber da war es plötzlich wieder. Wie aus heiterem Himmel und in seiner ganzen Pracht – es fühlte sich gar nicht schön an. Aber mindestens genauso unschön fühlte sich mein Ärger darüber an. Nun war ich also nicht nur eifersüchtig sondern zugleich auch noch ärgerlich über meine Eifersucht, was das Ganze nicht besser machte. Im Gegenteil: Ich fühlte mich lediglich doppelt mies.

Theoretisch weiß ich natürlich, dass solch ein Ärger über die eigenen Gefühle überhaupt nichts bringt, aber in dem Moment …

Irgendwann erinnerte ich mich wieder: Der erste Schritt zur Veränderung ist immer die Akzeptanz. Und dieses bloße Annehmen – Ja, so ist das jetzt: Ich bin eifersüchtig / traurig / enttäuscht … – reicht oft schon aus, damit das Gefühl weniger wird. Gefühle sind auch bloß Menschen: Sie wollen gesehen, angenommen und gefühlt werden. Dann verschwinden sie in der Regel früher oder später von allein wieder.

„Ich steh zu mir, auch wenn ich manchmal neben mir stehe“ – dieser Satz auf einer Postkarte über dem WC meines Kontrollsupervisors kam mir dann noch in den Sinn.
Und, dass Fehler und Schwächen zu haben, einfach zum Menschsein gehört und im Grunde nur bedeutet, dass es da noch Entwicklungspotential gibt 😉
Und, dass manch vermeintliche Schwäche, manch scheinbarer Fehler sich mitunter sogar als etwas ganz anderes erweist ….

 

Die größte Schwäche

Es war einmal ein Junge. Er war mit nur einem Arm auf die Welt gekommen, der linke fehlte ihm.

Nun war es so, dass sich der Junge für den Kampfsport interessierte. Er bat seine Eltern so lange darum, Unterricht in Judo nehmen zu können, bis sie nachgaben, obwohl sie wenig Sinn daran sahen, dass er mit seiner Behinderung diesen Sport wählte.

Der Meister, bei dem der Junge lernte, brachte ihm einen einzigen Griff bei und den sollte der Junge wieder und wieder trainieren. Nach einigen Wochen fragte der Junge: „Sag, Meister, sollte ich nicht mehrere Griffe lernen?“ Sein Lehrer antwortete: „Das ist der einzige Griff, den du beherrschen musst.“

Obwohl der Junge die Antwort nicht verstand, fügte er sich und trainierte weiter.

Irgendwann kam das erste Turnier, an dem der Junge teilnahm. Und zu seiner Verblüffung gewann er die ersten Kämpfe mühelos. Mit den Runden steigerte sich auch die Fähigkeit seiner Gegner, aber er schaffte es bis zum Finale.

Dort stand er einem Jungen gegenüber, der sehr viel größer, älter und kräftiger war als er. Auch hatte der viel mehr Erfahrungen. Einige regten an, diesen ungleichen Kampf abzusagen und auch der Junge zweifelte einen Moment, dass er eine Chance haben würde. Der Meister aber bestand auf den Kampf. Im Moment einer Unachtsamkeit seines Gegners gelang es dem Jungen, seinen einzigen Griff anzuwenden – und mit diesem gewann er zum Erstaunen aller.

Auf dem Heimweg sprachen der Meister und der Junge über den Kampf. Der Junge fragte: „Wie war es möglich, dass ich mit nur einem einzigen Griff das Turnier gewinnen konnte?“
„Das hat zwei Gründe: Der Griff, den du beherrschst, ist einer der schwierigsten und besten Griffe im Judo. Darüber hinaus kann man sich gegen ihn nur verteidigen, indem man den linken Arm des Gegners zu fassen bekommt.“

Und da wurde dem Jungen klar, dass seine größte Schwäche auch seine größte Stärke war.

(Merkle, Dr. Rolf, www.palverlag.de)

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